DER MYTHOS VOM LOSLASSEN: MUSS ICH DEN VERSTORBENEN WIRKLICH GEHEN LASSEN?
Loslassen. Immer wieder begegnet uns dieses Wort, wenn wir trauern. Den Verstorbenen loslassen, gehen lassen, hinter uns lassen und nach vorne schauen. Wenn wir das nicht schaffen, können wir niemals mehr ein glückliches Leben führen und womöglich behindern wir auch noch den Verstorbenen selbst auf seiner Weiterreise in höhere Sphären. Doch egal wie oft uns das von außen gesagt wird, tief in unserem Inneren spüren wir, dass es sich nicht stimmig anfühlt, dass wir den Verstorbenen nicht über das Loslassen ein zweites Mal verlieren wollen.
In der Therapie und Trauerbegleitung war das Konzept des Loslassens und Abschließens, um schließlich ohne den Verstorbenen in ein neues Leben zu gehen, bis vor einigen Jahren noch Standard. Auch heute wird es noch oft verwendet, entsprechende Phasenmodelle der Trauer werden angewendet und vor allem in den Köpfen von denjenigen, die sich nicht professionell damit beschäftigen, scheint es oft fest verankert: Wer zu lange traurig ist, wer nach Monaten und Jahren immer noch zu viel über den Verstorbenen redet und an ihn denkt, der steckt in seiner Trauer fest. Wo kommt diese Idee her?
Trauer im 20. Jahrhundert: Freuds Idee des Loslassens
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es Freud, der zum ersten Mal im psychologischen Kontext, also auf professionelle Art und Weise, über die Trauer schrieb:
Die Trauer hat eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen, sie soll die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von den Toten ablösen. (Freud, „Totem und Tabu“, 1913)
Später, in seinem Aufsatz „Trauer und Melancholie“ im Jahr 1917, beschrieb er dann, wie die Libido, also die emotionale Energie oder Liebe, von dem Verstorbenen abgezogen werden muss, um sie schließlich nach erfolgreicher Trauerarbeit wieder in neue Beziehungen und das eigene Leben zu investieren. Basierend auf seinen Ideen haben sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts dann verschiedene Modelle der Trauer entwickelt, die alle ein klares Ziel haben: Den Abschluss der Trauer und das Loslassen des Verstorbenen im Sinne eine Ablösung der Gefühle von ihm.
Ich muss ehrlich gestehen: Es fällt mir nicht leicht, diese Zeilen zu schreiben, alles in mir sträubt sich dagegen, diesen Gedanken überhaupt hier in Worte zu fassen. Denn für mich persönlich fühlt sich das ganz und gar nicht stimmig an. Klar ist da diese Realität im Äußeren, in der der Verstorbene fehlt, körperlich ist er nicht mehr anwesend. Natürlich geht es in der Trauer auch darum, diese äußerliche Abwesenheit zu erkennen, zu realisieren und irgendwann anzunehmen. Das ist ein langer und schwieriger Prozess. Zugleich habe ich aber erlebt, dass das nicht heißt, dass ich meine Liebe von ihm abziehen muss. Im Gegenteil: Sie darf bleiben, wachsen und sich auch weiterhin verändern. Die Beziehung zu ihm bleibt bestehen, sie ist jetzt jedoch eine innere Beziehung und keine äußere mehr. In der sicheren Verbindung mit ihm kann ich weiter gehen und meinen Weg im Leben finden.
Die Liebe darf bleiben
Das Verrückte ist: Freud selbst hat genau das ebenfalls erlebt. Nach dem Tod seiner Tochter schrieb er 9 Jahre später an einen Freund:
Gerade heute wäre meine verstorbene Tochter 36 Jahre alt geworden … Man weiß, dass die akute Trauer nach einem solchen Verlust ablaufen wird, aber man wird ungetröstet bleiben, nie einen Ersatz finden. Alles, was an die Stelle rückt, wenn es sie auch ganz ausfüllen sollte, bleibt doch etwas anderes. Und eigentlich ist es recht so. Es ist die einzige Art, die Liebe fortzusetzen, die man ja nicht aufgeben will.
Er selbst hat es also anders erlebt, als er es einige Jahre zuvor beschrieben hatte. Die Liebe zu seiner Tochter bleibt bestehen und das ist auch gut so. Das Wissen um die Verbindung mit den Ahnen, mit den Verstorbenen, findet man in den unterschiedlichsten Kulturen, vor allem bei den Naturvölkern. Jahrhundertelang schien es eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass dieser Kontakt nicht abgebrochen wird, nur weil derjenige in unserer „realen“, körperlichen Welt nicht mehr existiert. Ungeachtet der psychologischen Modelle haben es auch im vergangenen Jahrhundert Trauernde weiter so gelebt. Intuitiv fühlen wir alle: Die Erinnerungen an den Verstorbenen kann uns keiner nehmen und wir müssen sie auch nicht vergessen. Das, was der Verstorbene in uns bewegt hat, sein Wesen, das uns berührt hat, wird in uns weiter leben. Und die Liebe und Verbindung zu ihm darf bleiben.
... das KIND, das man unter seinem Herzen trug… damit stirbt ein Stück von einem selbst, die Hoffnungen und Träume, die man damit verbunden hat, ein Stück der Zukunft…